Laboranten

Nestlé hat Wachstumsprobleme. Neue Märkte müssen her. Besonders im Bereich Functional Food ist das Schweizer Unternehmen stark engagiert und investiert Millionen in die Forschung. Kooperationen mit Pharmakonzernen und eine verstärkte Lobbyarbeit sollen den Weg frei machen für Medikamentenwirkstoffe in Lebensmitteln.

Nestlé ist der größte Nahrungsmittelhersteller, Milch- und Flaschenwasserproduzent der Welt. Produkte des Schweizer Großkonzerns sind überall auf der Welt zu bekommen. Das Wachstum ist an seine Grenzen gekommen und neue Märkte müssen her. Auch immer neue Negativ-Schlagzeilen haben das Image von Nestlé beschädigt. Nestlé wandelt sich nun zunehmend zu einem Lifestyle- und Pharmaunternehmen. Die Unternehmenstochter Health Science soll dabei der große Wachstumsmotor von Nestlé werden. Konzernchef Paul Bulcke hat den Gesundheitsmarkt im Fokus. Die Ausgaben für Gesundheit liegen weltweit bei zehn Billionen Dollar und werden sich nach Schätzungen in 15 Jahren verdoppeln. Von diesem Kuchen will Nestlé ein großes Stück abhaben.

Schon 2013 verkündete Nestlé die Führungsposition für Nutrition, Gesundheit und Wellness weiter auszubauen. Dafür sind Partnerschaften mit Organisationen eingegangen, die sich mit der Heilung von nicht übertragbaren Krankheiten beschäftigen. Nestlé holte sich Wyeth Nutrition und einige neue Kapazitäten für Nestlé Health Science ins Boot. Es wurde das Nestlé Institute of Health Sciences errichtet sowie zwei weitere in China. Auch ein neues neues F&E-Zentrum (Forschung und Entwicklung) in Indien sowie ein globales Zentrum für klinische Studien in der Schweiz betreibt Nestlé, um den neuen Markt von gesunder Ernährung zu etablieren.

Mit Nestlé Nutrition beschäftigt sich der Schweizer Konzern schon lange mit Gesundheit und Ernährung. Diese Sparte beinhaltet die Bereiche Schwangerschaft & Neonatologie, Kindheit (Kleinkindernährung, Wachstum & kognitive Entwicklung, Beikost, Immunfunktion & Probiotika), Allergien & Immunität (Immunfunktion & Probiotika, Allergie-Management, Nahrungsmittel-Allergie und Toleranzinduktion. Der Umsatz von Nestlé Nutrition liegt bei rund 8 Milliarden Schweizer Franken.

Der Bereich Schönheit und Jung bleiben ist für Nestlé auch schon lange ein Thema. Seit 30 Jahren betreibt Nestlé mit L´Oreal in Lausanne das Unternehmen Galderma. Aktuell forscht Nestlé auch im Bereich medizinischer Hautpflege. Aber das nächste große Ding sollen gesundmachende Lebensmittel sein.

Bisher floppten neue „gesundmachende“ Lebensmittel-Produkte von Nestlé überwiegend, da sie trotz zusätzlicher Vitamine oder Omega-Fettsäuren doch zu viel Zucker oder Fette enthielten. Der Verbraucher lässt sich heute nicht mehr so leicht täuschen. Paul Bulcke setzt zukünftig auf wirklich gesund machende Lebensmittel – sprich Medikamentenwirkstoffe in Lebensmitteln. Dafür nutzt Nestlé aktuell Genanalysen, die Pharmakonzerne bei der Medikamentenentwicklung verwenden. Der Lebensmittelgigant will so herausfinden, ob gewisse Nahrungsmittelzusätze nach genetischen Belangen bei bestimmten Erkrankungen gezielt helfen.

Nestlé betreibt schon jetzt massive Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit, um die fragwürdigen wissenschaftlichen Forschungen zur gesunden Ernährung voranzutreiben. Von der EU wird gefordert, diese in Vorschriften zu verankern. In der Schweiz zeigte Nestlé in einem „sponsored content“ im Parlamentarier-Magazin Politico am 18. Februar 2016 mit der Überschrift „Wanted: EU policy for better Innovation in Nutrition“ was von den EU-Politikern erwartet wird.

„Die niederländische Präsidentschaft hat die Novellierung der Lebensmittelverordnung wieder auf die politische Agenda gesetzt. So haben die Niederlande einen anerkennenswerten Beitrag zu der europäischen Ernährungspolitik geleistet – einem fehlenden Puzzleteil für einen gut funktionierenden einzelnen Markt, der wichtig für die Gesundheit und das Wohlbefinden von mehr als 500 Millionen Menschen ist. […]Wir brauchen erneuerte Verträge zwischen der Industrie, der Zivilgesellschaft und den Mitgliedstaaten. […]. Zusammen mit unseren Forschungspartnern konnte Nestlé mehr und mehr über die komplexen Wechselwirkungen zwischen Ernährung, Gene und Lifestyle-Faktoren herausfinden. Personalisierte Ernährung, vor allem, wenn sie mit der Digitaltechnik kombiniert wird, ist der nötige Paradigmenwechsel, da es die Verbraucher befähigen wird ihre eigene Gesundheit zu verbessern und zu erhalten.“

Nestlé gibt sich als Pionier und Vorreiter für einen neuen Lebensmittelmarkt. Nestlé verkauft sich bei der EU als der alleinige Konzern, der es schafft Rezepturen zu entwickeln, die Lebensmittel mit einem Gesundheitsnutzen vorweisen können. Sie geben sogar zu dies mit Gen-Technologie umsetzen zu wollen. Ein Multinationaler Konzern wie Nestlé hat natürlich einen starken Einfluss auf die lokale Wirtschaft sowie Weltwirtschaft. Zudem sind multinationale Konzerne meist miteinander verbunden und vernetzt. Es werden Lobby-Kooperationen geschlossen, um auch Druck auf politischer Ebene zu machen. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA stand auch schon öfter in der Kritik mit ihren Entscheidungen eher den Konzernen zu dienen als der Bevölkerung.

Auf der Webseite von Nestlé ist folgendes über Functional Food zu lesen: „Der Name „funktionelle Lebensmittel“, auf Englisch „Functional Food“, ist Ihnen bestimmt schon im Supermarkt, beim Bäcker oder Metzger und in den Medien begegnet. Diese Lebensmittel enthalten Zutaten, die unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden positiv beeinflussen oder Krankheitsrisiken reduzieren sollen. Omega-3-Brot mit zugesetzten Omega-3-Fettsäuren und ACE-Säfte, die mit den Vitaminen A, C und E angereichert sind, gehören ebenso zum Functional Food wie Margarine mit Phytosterinen oder probiotische Milchprodukte.

Was genau ist Functional Food?

Eine weltweit einheitliche Definition für funktionelle Lebensmittel gibt es nicht. Funktionelle Lebensmittel haben zusätzlich zu ihrem reinen Nährwert noch einen gesundheitlichen Nutzen. Aus ihnen sollen ein verbesserter Gesundheitszustand, ein gesteigertes Wohlbefinden und sogar eine Verminderung von Krankheitsrisiken resultieren. Einen Überblick über die Zutaten und den möglichen Zusatznutzen verschiedener funktioneller Lebensmittel gibt Ihnen die Tabelle. Hier finden Sie auch mit Vitaminen und Mineralstoffen angereicherte Lebensmittel, da diesen ebenfalls ein gesundheitlicher Mehrwert zugesprochen wird. Ob sie zum Functional Food gehören oder nicht – dazu gibt es keine übereinstimmende Meinung.“

Wenn Nestlé es schafft eine Novellierung der Lebensmittelverordnung nach den eigenen Wünschen durchzusetzen und eine für Nestlé gewünschte Definition für Functional Food in die Gesetze zu implementieren, werden Lebensmittel zukünftig direkt auf die Gesundheit beim Menschen einwirken. Dann ist der Weg frei für pharmazeutische Wirkstoffe in Lebensmitteln. Der Verbraucher nimmt dann durch die Nahrung täglich vorbeugende Medikamentenwirkstoffe gegen Krankheiten ein. Von blutdrucksenkendem Joghurt für Senioren bis wachstumsfördernde Süßigkeiten mittels Hormone für Kinder ist alles denkbar. Nestlé täuscht den Verbrauchern und der Politik mit dem neuen „Lebensmittel-Trend“ vor, dass die neuen Produkte weltweit viele Gesundheitsprobleme werden lösen können. Aber eine Dauermedikation kann nicht die Lösung sein.

Für 18 Millionen Franken hat Nestlé ein neues High-Tech Zentrum für klinische Entwicklung nahe Lausanne bauen lassen. Hier wird nach bisher nicht bekannten Geheimnissen von Nahrung geforscht, wie etwa warum wir Fett als wohlschmeckend empfinden. In Lausanne laufen auch die Ergebnisse der weltweit rund 1.000 klinischen Versuche von Lebensmitteln zusammen. Neben der Erforschung von Spezialnahrung für Kranke wird auch an den Gesundheitseffekten bereits vermarkteter Produkte geforscht.

Wegen der seit 2007 bestehenden Europäischen Health Claim Verordnung müssen die Unternehmen den Gesundheitsnutzen ihrer Produkte wissenschaftlich bei der EFSA belegen, wenn sie damit werben wollen. Derzeit wird bei der EFSA der gesundheitliche Nutzen von Probiotika genau untersucht. Es wurden verschiedene Publikationen zu Health Claims (Gesundheitsnutzen) von Probiotika eingereicht. Die EFSA wird entscheiden müssen welche Aussagen zu Probiotika erlaubt werden und welche nicht. Bisher hat kein probiotischer Joghurt die Gnade der Tester gefunden. „Mittlerweile ist klarer geworden, welche Kriterien die EFSA anlegt“, sagt Thomas Beck, Direktor Nestlé Research Center. Die Erkenntnisse sollen helfen die neuen Anträge für Health-Claims vorzubereiten. Gelingt es dem Schweizer Multi die EFSA über den Zusatznutzen ihrer neuen Produkte zu überzeugen, bekommt Nestlé einen Schutz der Werbeaussagen von fünf Jahren.

Die Lobbyverflechtungen in der EFSA sind enorm. Im Lebensmittelbereich ist das International Life Sciences Institute (ILSI) eine der einflussreichsten Lobbyorganisationen. Sie wird von etlichen Konzernen aus der Lebensmittel-, Chemie- und Gentechnikindustrie finanziert. Zum ILSI gehören neben Nestlé unter anderem Coca-Cola oder Monsanto. Insgesamt sind 55 Unternehmen aus den USA, Europa und Japan in dieser Lobbyorganisation. Die ILSI ist in der Vergangenheit wegen ihrer Industrienähe und der Verflechtungen mit staatlichen Aufsichtsbehörden in die Kritik geraten, auch wegen ihren starken Einfluss auf die Entscheidungen der EFSA.

Nestlé ist auf dem besten Weg eine Revolution in der Nahrungsmittelversorgung durchzusetzen. Eine völlig neue Art von Lebensmitteln wird uns alle aller Wahrscheinlichkeit erwarten. Wir sollen uns durch Lebensmittel die pharmazeutisch wirken gesund essen. Nestlé erfindet einen neuen Markt – das Pharma-Food. Der Schweizer Konzern ist längst nicht mehr nur in unserer Küche. Wir finden ihn auch im Bad und im Apothekerschrank.

 

Comments powered by CComment' target='_blank'>CComment

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.